44. Duisburger akzente
03. März bis 02. April 2023 | WUNDER
„Die Wunder von Duisburg“ – Hypothetischer Artikel der New York Times vom 03. März 2023
In der vielleicht größten Stadt Europas, von der man zuvor noch nie etwas gehört hat, sind im vergangenen Monat unfassbare Dinge geschehen. Diese „Wunder von Duisburg“ haben dramatische Auswirkungen auf uns alle, von New York bis Neuguinea.
Es geschah im Rahmen eines Kulturfestivals – und begann mit einer Zauberkünstlerin, die mit einem Fingerschnippen das Corona-Virus auf der ganzen Welt verschwinden ließ. Kurz darauf löste ein Theaterstück sämtliche rassistischen und sexistischen Vorurteile aller Besucher*innen in Luft auf – und bereits die dritte Vorstellung wurde zum Public-Viewing-Event auf tausenden von Marktplätzen. Ähnlich erfolgreich war die Foto-Ausstellung, die das Problem des Klimawandels löste. Vor Ort erfasste die Duisburger Bürger*innen eine solche Kulturwut, dass alle Veranstaltungen ausverkauft waren und die Künstler*innen dank zahlreicher Folgeaufträge niemals mehr in prekären Verhältnissen leben müssen. Und zum Abschlusskonzert, das vor zehn Tagen begann, tanzen die Menschen noch immer.
Inspiriert von diesen Ereignissen hat US-Präsident Joe Biden die „1. Duisburger Akzente der Vereinigten Staaten“ ausgerufen – wir können es nicht erwarten!
„Da bräuchte es ja ein Wunder!“ – Wunder als Ausflucht
Und was soll das jetzt bitte? Egal wie inspiriert und inspirierend, wie gedankenanregend, berührend und erfolgreich die Veranstaltungen der kommenden Duisburger Akzente sein werden, an die „Wunder“ aus diesem hypothetischen Artikel da können sie unmöglich heranreichen. Wie frustrierend!
Und schon ist man beim ersten Fallstrick, wenn man sich mit Wundern beschäftigt. „Da bräuchte es ja ein Wunder!“ ist das vielleicht bequemste Totschlagargument, um jegliche Bemühungen in einer Sache einzustellen. Denn als Wunder versteht man Ereignisse, die eben nicht durch gute Planung und großen Einsatz geschehen, sondern die irgendeine „übernatürliche“ Fügung benötigen oder zumindest einen verdammt großen Zufall. Also lieber mal nichts tun, weil bringt ja eh nichts. Lieber mal sich in wohlig in Resignation, Faulheit und die Bettdecke einkuscheln, als zu scheitern.
Oder...?
„Wir schaffen uns ein Wunder!“ – „Große Zahlen“ und „kleine Wunder“ als Motivations-Instrument
Ein englischer Mathematiker hat im 19. Jahrhundert als eine Art Gesetz der großen Zahl sinngemäß formuliert: Alle Dinge, die theoretisch geschehen können, werden auch geschehen. Man muss nur genügend Versuche unternehmen!
Sechs Richtige im Lotto zu tippen ist beispielsweise so unwahrscheinlich, dass man es eigentlich als Wunder sehen muss. Und doch gelingt es ständig irgendjemandem – weil eben genügend Leute spielen. Genauso kann das auch für die Kunst gelten: Wenn genügend Duisburger Künstler*innen für die Akzente Kunst erschaffen, dann muss zwangsläufig etwas davon einmal als „großes Wunder“ in die Geschichte eingehen. Man hat sogar noch einen Vorteil gegenüber den Lottospielen: Man ist nicht rein vom Zufall abhängig, sondern kann die Rahmenbedingungen dafür optimieren: Durch Visionen, gute Planung, harte Diskussionen, unermüdliche Proben, leidenschaftlichen Einsatz und viel Herz!
Aber halt! Nur auf ein so ein großes Wunder abzuzielen, das hat dann doch ziemlich hohes Frustrationspotential, weil es meistens eben doch nicht eintrifft. Wie wäre es deshalb mit „kleinen Wundern“? Ist es nicht Wunder-bar, wenn man mit dem, was man erschafft, auch nur einen einzelnen Menschen tief berührt? Nur einen Menschen die Sorgen des Alltags vergessen lässt oder bei ihm ein Bewusstsein für wesentliche Probleme schafft? Und wie Wunder-voll ist es, wenn es gleich eine ganze Gruppe ist, seien es 10 oder 10.000, die man zu Begeisterungsstürmen oder Träumereien hinreißt? Die gehen einfach immer, diese „kleinen Wunder“!
(Und wenn so nebenbei noch ein „großes Wunder“ eintrifft, umso schöner!)
„Darüber wundere ich mich schon gar nicht mehr...“– Nicht-Wundern als Gefahr
Aber noch einmal: Halt! Bevor man sich jetzt mit Kollaborateur*innen Hals über Kopf ins Erschaffen von großen und kleinen Kunst-Wundern stürzt, sollte man sich noch eines zweiten Fallstricks bewusstwerden, der dem entgegenstehen kann. Er besteht aus dem gefährlichen kleinen Satz: „Darüber wundere ich mich schon gar nicht mehr...“ Dieser Satz, verbunden mit einem sarkastischen Abwinken, kommt immer dann zum Einsatz, wenn ein Gegenüber etwas vorschlägt oder tut, und man – sei es aus Vorerfahrungen oder Vorurteilen – davon ausgeht, dass es sowieso „wertlos“, „nicht realisierbar“, „chaotisch“, „lieblos“ oder „schlecht“ sein wird.
Ob ausgesprochen oder nur gedacht, in Duisburg kann man diesen Satz ziemlich gut. Wenn Freie Szene und die Institutionen aufeinandertreffen, Künstler*innen auf Techniker*innen oder Beamte. Er lässt sich hervorragend auf Vorgesetzte, Kolleg*innen und Untergebene anwenden – und im Grunde genommen auf jeden, der in etwas anderem Kontext, mit etwas anderer Arbeitsweise oder etwas anderen Wertvorstellungen agiert. Auch „die Politik“, „die Leute“, „die Gesellschaft“ und ähnliche Großkomplexe eignen sich dazu.
Das Teuflische an diesem Satz: Man „weiß“ schon im Vorhinein, dass man gar nicht mehr richtig zuhören und zusehen muss, geschweige denn darüber nachdenken und sich davon inspirieren lassen. Und noch schlimmer: Es ist der perfekte Vorwand, um alle eigenen Bemühungen einzustellen – denn warum sich mehr anstrengen als mein Gegenüber?
„Die Fähigkeit, sich zu wundern“ – Wundern als Chance
Es gibt jedoch ein wundersames Gegenmittel gegen „Darüber wundere ich mich schon gar nicht mehr...“: In der allerersten Vorlesung meiner Studienzeit forderte der Leiter meines Studiengangs, der nach einem erfüllten Theaterleben bald darauf in Rente ging, uns auf: „Egal, was Ihr lernt, das Wichtigste wird immer sein: Bewahrt Euch Eure Fähigkeit, Euch über Dinge zu wundern. Hört niemals auf, zu staunen!“
Und genau das ist es, was allen Künstler*innen und Besucher*innen der Duisburger Akzente von Herzen zu wünschen ist: Lauft mit offenen Augen und Ohren durch die Welt und wundert Euch! Staunt! Über andere Menschen, über neue Ideen und besondere Orte. Hört einander zu! Lasst Euch auf Neues ein, lasst Euch überraschen! Lasst unwahrscheinliche, besondere Begegnungen zu! Seid offen!